Vorurteile

Wir alle haben sie und wir pflegen sie sogar.

Doch außer dem offenbaren psychologischen Effekt scheint mir noch ein anderer Sinn darin verborgen.

Wenn Sie einmal kurz innehalten und überlegen, welche Vorurteile Sie haben und wozu sie Ihnen nützlich sind... Vielleicht stellen Sie ja fest, dass ein Vorurteil Sie der Arbeit enthebt, tiefer und genauer schauen zu müssen?

Vorurteile dienen unserer Bequemlichkeit und sie gaukeln uns vor, schon etwas zu wissen, bevor wir uns überhaupt fragend einem Thema genähert haben. Aber weil sie uns täuschen über unseren eigenen Standpunkt – besonders, wenn sie sich zu festen Überzeugungen und Glaubenssätzen verdichtet haben – hinterfragen wir sie so selten.

Damit konfrontiert, verteidigen wir sie eher, als uns die Mühe zu machen, genauer hin zu spüren an das Geschehen und gar in die tatsächliche Verlegenheit zu kommen, sie fallen lassen zu müssen, weil sich unsere Vorurteile als unhaltbar erweisen.

Was für eine Geste setze ich mit einer solchen inneren Haltung für ein Gegenüber?

Fühlen Sie mal hin was mit Ihnen passiert, wenn jemand Ihnen mit einem Vorurteil über Sie begegnet, weil Sie in seinen Augen zu groß oder zu klein, schlecht gekleidet sind oder eine Brille haben – für den Vorurteilsträger sind Sie schon unsympathisch ohne, dass er wirklich etwas über Sie weiß. Haben Sie noch Lust, sich auf so jemanden einzulassen? Sich ihm vielleicht sogar zu öffnen und selbst nun Ihrerseits ihm unvoreingenommen zu begegnen?

Mir macht es alles eng. Und ich kann spüren, dass dieser Mensch zu seinen Vorurteilen gekommen ist, weil er eine Wertung der Dinge vornimmt; die hat mit mir persönlich gar nichts zu tun. Diese Wertung ist meist eine Abwertung von Fremdem und eventuell parallel eine Aufwertung von Eigenem.

Dabei stellen sich mir neue Fragen:

Wenn ich mich selbst aufwerte, indem ich andere abwerte – ist das nicht überhaupt eine einzige große Abwertung des Mensch-Seins? Geboren aus der Haltung, dass der eine Mensch mehr oder weniger wert sein könne als ein anderer. Aber wer legt dieses Maß fest? Woran messe ich den Wert von Mensch-Sein? Ist Mensch-sein nicht schon ein Wert an sich?

Unsere Gesetzgebung hat u.a. allgemeine sogenannte Menschenrechte aufgestellt aus dem Verständnis heraus, dass es etwas allgemein Gültiges und Verbindliches für alle gibt. Das untergraben wir, wenn wir zulassen, dass in uns Vorurteile zum Tragen kommen. Wir verleugnen damit unser eigenes Sein.

Wir sind doch auf ein Miteinander angewiesen und tragen meist in uns eine tiefe Sehnsucht danach. Sich treffen in gemeinsamen Vorurteilen ist eine Illusion von Gemeinschaft und Bindung, denn eigentlich bleibt dabei jeder einsam. Vorurteile sind wie eine Mauer, die den Begegnungsraum zwischen zwei Menschen zuhält.

Erinnern Sie sich an das Gefühl von vorhin, wenn Ihnen jemand mit einem Vorurteil über Sie gegenübersteht?

Etwas in Ihnen verschließt sich vermutlich in diesem Moment, sodass er nichts mehr von Ihrem wahren Wesen zu "sehen" bekommt. Aber auch er versteckt sich hinter seiner Vorurteilsmauer vor Ihnen.

Vorurteile sind für mich große Verhinderer einer echten, tiefen menschlichen Begegnung.

Die ist gar nicht so einfach auszuhalten; es bedarf gut entwickelter Ich-Kraft, um die gegenseitige geistige Berührung auszuhalten, die in echter Begegnung entsteht.

Denke ich das konsequent zu Ende, muss ein therapeutischer Ansatz immer darauf abzielen, die Ich-Stärke zu entwickeln und zu unterstützen (bitte nicht verwechseln mit Ego oder Selbst), statt gegen diese Mauer an zu argumentieren. Keine intellektuelle Auseinandersetzung ist hier hilfreich, nur das eigene Mensch-Sein einem solchen Gegenüber "entgegen" zu halten in aller Offenheit und Urteilsfreiheit, ohne Wertungen.

Das ist nach meiner Erfahrung eine der größten Herausforderungen, die wir als Menschen zu leisten haben und die uns als Therapeuten ganz besonders fordert.

Um das zu können müssen wir uns unserer eigenen Vorurteile bewusst werden, sie gut kennen und auf zu lösen bereit sein; die kleinen und die großen. Dazu muss ich sie benennen und akzeptieren, dass ich welche habe. Wir sollten dieser vorurteilsbildenden Stimme in uns Aufmerksamkeit schenken, damit wir sie im Bewusstsein halten.

Ein Aspekt von Bequemlichkeit – zu der uns Vorurteile verführen – ist Trägheit, in diesem Falle eine Trägheit des Geistes; Trägheit zählt zu den sieben Todsünden

Todsünde heißt für mich eine tiefgreifende, umfassende Verleugnung und Entwürdigung des Mensch-Seins und allen Schöpferischen. Sie töten das Lebendige in uns.

Es gibt sicherlich Kräfte im Universum, die uns genau dahin führen wollen und sie machen nach meiner Ansicht viel des aktuellen Zeitgeschehens aus.

So, wie wir dem Menschen mit Vorurteilen mit liebevoller Achtung seines Mensch-Seins begegnen sollten, so wichtig ist es, auch für uns selbst als Vorurteilsträger in der gleichen Haltung zu uns für unser eigenes Mensch-Sein zu bleiben. Vielleicht ist das auch gemeint mit: "Liebe Deinen Nächsten wie dich selbst".

In diesem Sinne sind Vorurteile – wenn wir sie in uns oder dem Gegenüber wahrnehmen – Erinnerer und Mahner für die menschliche Aufgabe, die wir haben. Das ist für mich der herausragende Aspekt, warum es sie gibt.

Begegnen wir diesem Teil in uns mit der Demut, die er verdient und heißen ihn als Lehrmeister willkommen.

September 2011